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05.09.2012

Kordula Schulz-Asche: Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung auf dem Land

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Bartelt hat völlig recht. Er sagt, dass wir bereits heute in Hessen medizinisch unterversorgte Gebiete haben. Zum einen sind dies sozial benachteiligte Stadtteile, in denen sich Hausärzte schon seit Jahren nicht mehr niederlassen. Zum anderen haben wir zunehmend ein Problem im ländlichen Raum. Dort suchen Mediziner aus Altersgründen Nachfolger für ihre Praxen.

Ich glaube, dass Ihre Niederlassungsprämie, über die wir heute diskutieren, der falsche Weg ist, diese grundsätzlichen Probleme zu lösen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Thomas Spies und Timon Gremmels (SPD))

Ich glaube, dass wir bei der Regelung der Nachfolge für Arztpraxen tatsächlich ein Problem haben. Denn für viele Ärzte ist der Verkauf ihrer einzelnen Praxis die Altersvorsorge. Aber wenn Sie sich um dieses Problem kümmern wollen, dann benennen Sie es auch so und reden nicht davon, dass Sie die Strukturprobleme der ambulanten medizinischen Versorgung aufgreifen wollen.

(Beifall des Abg. Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Denn tatsächlich ist es so, dass Sie überhaupt kein Konzept haben, wie Sie mit der Versorgung im ländlichen Raum langfristig umgehen wollen. Sie haben einzelne Maßnahmen. Ein Konzept haben Sie nicht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Thomas Spies (SPD))

Weil sich dieser Prozess seit Jahren abzeichnet, hat die Landtagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bereits vor mehreren Jahren ein Konzept zur gesundheitlichen Versorgung im ländlichen Raum vorgelegt, bei dem verschiedene Stellschrauben betrachtet werden und bei dem davon ausgegangen wird, dass alles, was wir an verschiedenen Ansätzen, Informationen, Ideen und Angeboten haben, zusammengefasst werden muss. Wir können den Leuten doch nicht vormachen, dass zusätzliche neue Strukturen geschaffen werden, sondern wir müssen dafür sorgen, dass das, was vorhanden ist, so gestaltet wird, dass es erhalten bleibt, dass es nachhaltig für die Menschen in der Region wirkt und dass es für junge Menschen, die in die Region wollen, die dort arbeiten wollen, attraktive Arbeitsplätze sind. Das ist es, worum es heute geht. Da ist eine Niederlassungsprämie wirklich das Falscheste, was man sich vorstellen kann.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn man ein Problem lösen will, muss man sich erst einmal Gedanken darüber machen, was die Gründe dafür sind. Wir haben im ländlichen Raum eine älter werdende Bevölkerung bei gleichzeitigem Bevölkerungsrückgang. Wenn wir genau hinschauen, erkennen wir, dass wir im ländlichen Raum auch eine ärmer werdende ältere Bevölkerung haben. Das ist eine riesige gesellschaftliche Herausforderung. Das gilt übrigens nicht nur für den Bereich Gesundheit, aber eben dort auch. Darauf müssen wir uns einstellen.

Zweitens. Das hat damit zu tun. Wir haben durch die älter werdende Bevölkerung eine steigende Nachfrage nach medizinischen Leistungen in der ambulanten Versorgung, in der stationären Versorgung, aber insbesondere auch bei der Pflege.

Drittens haben wir in diesem Bereich einen steigenden Mangel an hoch qualifizierten Fachkräften. Im ländlichen Raum wächst dieser Mangel sowohl bei der medizinischen als auch bei der pflegerischen Versorgung.

Ich komme jetzt auf Ihre Niederlassungsprämie zurück. Dazu kommen noch bestimmte Strukturen, die wir in der ambulanten Versorgung haben. Wir haben im ländlichen Raum die klassische ambulante Versorgungsstruktur. Sie besteht aus einzelnen Praxen.

Wir alle kennen aus den Fernsehserien den Landarzt. Wir lieben ihn so auch alle. Er hat dort seine Praxis. Seine Frau hilft ab und zu in der Praxis. Sie kümmert sich ansonsten um die Kinder, macht den Garten und ist ehrenamtlich tätig.

Meine Damen und Herren, dieses Bild des Landarztes entspricht nicht mehr der gesellschaftlichen Realität. Das müssen Sie endlich zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Wir haben heute bereits selbst da, wo wir noch genug niedergelassene Ärzte auf dem Land haben, Probleme, die Notfall- und Bereitschaftsdienste zu organisieren. Denn die dort jetzt arbeitenden Ärzte sind oft nicht mehr bereit, am Wochenende und während der Nacht zu arbeiten. Wenn dann noch eine Praxis schließt, müssten sie praktisch rund um die Uhr arbeiten. Das sind die strukturellen Probleme, die wir angehen müssen, und bei denen Ihre Niederlassungsprämie überhaupt keine Lösung bietet.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Deswegen müssen wir uns doch die Frage stellen: Was können wir tun, damit das Arbeiten auf dem Land attraktiv wird? – Ich möchte da einmal ausdrücklich ein Lob aussprechen. Ich glaube, dass die Förderung der Fort- und Weiterbildung, mit der das Interesse an der Tätigkeit des Hausarztes geweckt werden soll, ein guter Ansatz ist.

(Zuruf von der CDU)

– Ich lobe Sie gerade. Sie merken es nicht einmal, wenn man Sie lobt.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Heiterkeit der Abg. Barbara Cárdenas (DIE LINKE))

Im Großen und Ganzen reden wir hier aber über Strukturfragen. Die Strukturfrage besteht darin, dass im Wintersemester 2012/2013 fast 60 Prozent der dort Studierenden Frauen sind. Ich habe gerade den Landarzt von früher, den wir alle aus dem Fernsehen kennen, beschrieben.

Diese Frauen kommen als Medizinerinnen auf den Arbeitsmarkt. Sie haben ganz andere Ansprüche. Das gilt übrigens auch für die jungen Männer, die im Moment Medizin studieren. Wir werden eine junge Medizinergeneration haben. Wir müssen uns überlegen, was für diese Generation die Arbeitsplätze auf dem Land attraktiv macht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Barbara Cárdenas (DIE LINKE))

Dazu gehört die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in vielerlei Hinsicht, insbesondere aber auch hinsichtlich der Arbeitszeit. Wir brauchen Arbeitsplätze in Teilzeit und welche, die flexibles Arbeiten ermöglichen. In der standardisierten alten klassischen einzelnen Praxis ist es gar nicht möglich, sie mit solchen Formen zu führen.

Hinsichtlich der Arbeitszeit brauchen wir die Möglichkeit der Vereinbarung von Familie und Beruf. Wir brauchen auf dem Land vernünftige Einrichtungen der Bildung und der Betreuung, die auf die Bedürfnisse der dort arbeitenden Ärztinnen und Ärzte eingestellt sind. Wir wissen, dass viele Ärzte, wenn sie Kinder haben, in bestimmte Gemeinden gar nicht mehr gehen wollen, weil es dort keine Schulen mehr gibt. Das kann ihnen keiner verdenken. Das führt dazu, dass auch andere Fachkräfte nicht in diesen Ort ziehen.

Das sind doch alles strukturelle Probleme des demografischen Wandels, die wir endlich einmal ehrlich ansprechen müssen und die endlich einmal ehrlich auf den Tisch müssen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Heinz Lotz (SPD))

Wir werden auch zunehmend das Problem haben, dass Ärztinnen und Ärzte pflegebedürftige Eltern haben. Unter Umständen sind Familien gerade deshalb bereit, auf das Land zu ziehen, weil sie dort ihre Eltern mitnehmen und pflegen können. Aber auch dafür brauchen wir unterstützende Strukturen, und zwar nicht nur für Ärztinnen und Ärzte, sondern für alle jungen Fachkräfte, die bereit sind, sich auf dem Land anzusiedeln.

Ich finde, das nächste ist auch ein ganz wichtiges Problem, das wir in den Blick nehmen müssen. Wir müssen auch daran denken, dass heute bei vielen Ehepaaren beide berufstätig sein wollen. Das heißt, dass man nicht die Förderung eines Ehepartners machen kann. Vielmehr müssen wir im Blick haben, dass auch der Partner Beschäftigungsmöglichkeiten bzw. Arbeitsmöglichkeiten in der Region braucht. Dafür braucht man Konzepte, die man erarbeiten muss. Da ist die Landesregierung bisher jede Antwort schuldig geblieben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Meine Damen und Herren, Ihre Niederlassungsprämie wird sicherlich Mitnahmeeffekte auslösen. Daran habe ich gar keine Zweifel. Das Geld werden Sie schon irgendwie loswerden. Das wird aber die strukturellen Fragen in keiner Weise angehen. Das gilt übrigens auch hinsichtlich der medizinischen Versorgung.

Wir brauchen Kooperationen in stärkerem Maße. Dafür brauchen wir einen öffentlichen Gesundheitsdienst, der in die Lage versetzt wird, die verschiedenen vorhandenen Ansätze und Angebote vor Ort zu bündeln. Wir brauchen eine Konzentration auf die Versorgung mit Hausärzten. Wir brauchen innovative Strukturen beim Angebot und eben nicht die einzelne Praxis.

Sie regen sich immer über die Medizinischen Versorgungszentren auf. Wir brauchen Strukturen, mit denen es tatsächlich möglich ist, mit mehreren angestellten Ärztinnen und Ärzten in Teilzeit zu arbeiten. Diese Strukturen zu schaffen steht auf der Tagesordnung, aber nicht die Finanzierung der einzelnen Praxen, von der wir wissen, dass es vielleicht noch einzelne Interessenten geben wird, dass damit aber die strukturellen Probleme nicht wirklich gelöst werden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen Strukturen, mit der wir in der Lage sind, neue Ideen und neue Projekte zu entwickeln und diese auch umzusetzen.

In vielen anderen Bundesländern gibt es gute Beispiele dafür, was man alles tun kann. Es gibt Gemeindeschwesterprojekte in Mecklenburg-Vorpommern und anderen Bundesländern. Es gibt „Ärzte auf Rädern“. Da fahren die Ärzte zu den Patienten, die nicht mehr in der Lage sind, zum Arzt zu gehen, selbst wenn er in der gleichen Gemeinde wohnt. Bei all diesen Ansätzen genügt es nicht, Ideen zu entwickeln, sondern man braucht Strukturen, die in der Lage sind, solche Projekte einzuleiten.

Meine Damen und Herren, deswegen sage ich Ihnen: Die Einzelpraxis ist tot. Auf dem Land brauchen wir Strukturen, die sowohl in der Lage sind, die medizinische Versorgung zu erhalten und zu verbessern, sie innovativer zu gestalten, als auch den dort arbeitenden Menschen tatsächlich eine Perspektive zu geben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung auf dem Land ist nicht in erster Linie eine finanzielle Frage; es ist eine Frage von besserer Kooperation, struktureller Reform, Innovation und Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Ich befürchte, wenn die Landesregierung so weiter macht, wird in dieser Legislaturperiode tatsächlich nicht sehr viel passieren. Man verharrt beim veralteten Bild vom Landarzt und sieht keine Potenziale der Innovation vor Ort. Vor allem hat man kein umfassendes Konzept, wie man die Strukturen der Krankenversorgung unter den Aspekten der Demografie und der wachsenden Frauenerwerbstätigkeit tatsächlich in die Zukunft bringen kann. Die Konzepte von anderen liegen vor, unter anderem von uns. Die Akteure haben gezeigt, sie sind zur Kooperation bereit. Also packen wir es an. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

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