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02.04.2009

Kordula Schulz Asche zum Thema: Ambulante Versorgung im ländlichen Raum

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Rentsch, ich teile Ihre Auffassung, dass es relativ dringenden Handlungsbedarf bei der ambulanten Versorgung gibt. Mir fiele es aber leichter, Ihren Vorschlag zu unterstützen, dass die Regierung das Heft in die Hand nehmen soll, wenn Ihr Antrag die entsprechende Tiefenschärfe hätte. Leider hat er sie nicht. Deswegen haben wir einen eigenen Antrag eingebracht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wir müssen feststellen, dass sich die ambulante medizinische Versorgung in Hessen in den letzten Jahren deutlich verändert hat. Wir haben ein ganz deutliches Überangebot an Arztpraxen aller Art und Fachrichtungen in den Ballungsgebieten, und wir haben in den ländlichen Räumen zwar eine Überversorgung, aber ebenfalls eine sehr unterschiedliche Verteilung der Arztpraxen. Wenn wir uns diese Entwicklung genauer ansehen, wird klar, dass wir inzwischen in einigen Gebieten hinsichtlich der Versorgung mit Augenärzten, z. B. im Odenwaldkreis, im Kreis Limburg-Weilburg, im Schwalm-Eder-Kreis, und im Landkreis Kassel sogar hinsichtlich der Versorgung mit Hausärzten Probleme haben. Ich zeige Ihnen hier die Versorgungstabelle der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen. Alle Gebiete, die rot und grau gefärbt sind, sind im Prinzip offiziell überversorgt, alle Gebiete, die blau, gelb oder grün sind, sind unterversorgt. Wir wissen aber, dass sich die Situation in der nächsten Zeit zuspitzen wird, weil wir in diesem Bereich einige strukturelle Probleme haben. Darauf möchte ich gerne eingehen.

Neben den Veränderungen in der Versorgungssituation hat sich auch der Arztberuf geändert. Wir haben in diesem Beruf – wie in vielen anderen – eine Abkehr von klassischen Familien- und Rollenbildern festzustellen. Das ist eine ganz wesentliche Herausforderungen, weshalb Ihr Beharren auf dem Berufsbild als freier Beruf keine Lösung ist. Wir brauchen auch im ländlichen Raum eine ambulante Versorgung, die dieser Veränderung in der Gesellschaft Rechnung trägt.

Das will ich an ein paar Zahlen verdeutlichen. Bei den Medizinstudenten im ersten Semester ist die Zahl der Frauen seit den Neunzigerjahren von rund 50 % auf inzwischen 65 % gestiegen.

Vizepräsidentin Sarah Sorge:

Frau Kollegin Schulz-Asche, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rentsch?

Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Nicht mitten im Satz. – Das heißt, dass die Mehrzahl derer, die heute mit dem Medizinstudium beginnen, Frauen sind. Auf diese Situation müssen wir uns vorbereiten.

Jetzt kann mir der Kollege Rentsch gerne eine Zwischenfrage stellen.

Florian Rentsch (FDP):

Frau Kollegin Schulz-Asche, ich will nur nachfragen, weil Sie gerade das Berufsbild der freien Berufe thematisiert haben: Sind die GRÜNEN für das Berufsbild Arzt als freier Beruf, oder sind sie nicht dafür?

Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Lieber Herr Kollege Rentsch, ich bitte Sie um neun Minuten Geduld, dann werden Sie die Antwort auf diese Frage wissen. Ich denke, unser Antrag zeigt auch, dass wir uns sehr ernsthaft mit der Frage unterschiedlicher Angebote im ländlichen Raum befassen. Deshalb möchte ich meine Gedanken gerne weiterentwickeln.

Wir haben eine weitere Änderung im Arztberuf. Die Zahl der Ärztinnen, die in diesem Beruf tätig sind, ist zwischen 2000 und 2005 von 38,4 % auf 41,6 % gestiegen. Wir haben außerdem das ganz große Problem – deshalb ist tatsächlich eine Dringlichkeit gegeben –, dass unter den freien niedergelassenen Ärzten immer noch eine sehr starke Überzahl an männlichen Ärzten besteht, die in den nächsten fünf bis zehn Jahren aus dem Beruf ausscheiden werden. Damit sind viele Praxen, die es im Moment im ländlichen Raum gibt, in ihrer Weiterexistenz direkt bedroht.

Auf dieses Problem kann man aber nicht mit Ideologie antworten, sondern da braucht man konkrete Handlungsansätze. Darauf will ich mich im Weiteren konzentrieren, Herr Kollege Rentsch, und das würde ich auch Ihnen raten. Sie versuchen, mit dem klassischen Bild des niedergelassenen Arztes Politik zu machen. Wir brauchen aber eine Politik vor Ort, die tatsächlich sicherstellt, dass die Patienten versorgt werden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Wir haben in naher Zukunft tatsächlich die Gefahr der Unterversorgung in Gemeinden. Ich habe darauf hingewiesen, dass es diese Unterversorgung in einzelnen Bereichen bereits gibt. Darauf müssen wir reagieren.

Wir haben auf der anderen Seite die Selbstverwaltung für diesen Bereich und den Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigung nach den § 71 und 75 SGB V. Aber ist es Aufgabe der Landespolitik – auch da gebe ich Ihnen recht –, angesichts des demografischen Wandels und angesichts der Änderung des Berufsbildes, die ich hier geschildert habe, hier tätig zu werden. Ich denke – der Kollege Dr. Müller ist gerade da –, dass die Enquetekommission „Demografischer Wandel“ schon gute Vorarbeit geleistet hat – und zwar mehr, als in Ihrem Antrag zu finden ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Wir zeigen in unserem Antrag – ich möchte nur einige Beispiele aufgreifen –, Ansätze auf, wie nach unserer Meinung die Landesregierung, die Gemeinden, die Kommunen, die Kassenärztliche Vereinigung, die Kassen, aber auch die Patientenorganisationen – letztendlich muss für uns der Patient im Mittelpunkt stehen – in diesen Prozess einbezogen werden können. Wir müssen die betroffenen Gemeinden unterstützen. Hier gibt es keine allgemeingültigen Lösungen, da sich in jeder Gemeinde die Situation anders darstellt. Wir brauchen aber auch eine bessere Kooperation von niedergelassenen Ärzten im ländlichen Raum mit der dortigen Krankenpflege. Wir brauchen eine bessere lokale und regionale Planung und Koordination der vorhandenen Angebote, der vorhandenen Dienstleistungen, z. B. durch Gesundheitskonferenzen Wir brauchen eine Politik vor Ort, die sich daran orientiert, eine integrierte Versorgung der Patienten sicherzustellen, von der Prävention über die ambulante Versorgung bis hin zur stationären Aufnahme. All dies sind Fragen, die wir für den ländlichen Raum klären müssen. Dafür brauchen wir nicht allein die Landesregierung, sondern es kommt auf gemeinsames Handeln der Kommunen, der Landesregierung und der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen an.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Sarah Sorge:

Frau Schulz-Asche, entschuldigen Sie bitte. Es ist ein enormer Geräuschpegel hier im Saal. Ich darf Sie bitten, der Rednerin zuzuhören und Ihre Unterhaltungen einzustellen. Vielen Dank.

Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Meine Damen und Herren, natürlich geht es auch darum, die Attraktivität der ärztlichen Tätigkeit im ländlichen Raum zu steigern. Aber auch da brauchen wir keine ideologisch geprägte Debatte, die Herrn Rentsch immer so leicht von der Zunge geht. Ich habe neulich beim Arzt gesessen, weil ich in Behandlung war, und habe ein Plakat der Kassenärztlichen Vereinigung gesehen, das in der Arztpraxis aufgehängt war. Auf diesem Plakat steht: Trotzdem will die Bundesregierung Gesundheitszentren als Alternative zur ärztlichen Behandlung einführen. – Meine Damen und Herren, man kann über diese Bundesregierung denken, was man möchte, aber dass die Kassenärztliche Vereinigung den Eindruck erweckt, dass in Gesundheitszentren keine ärztliche Behandlung stattfindet, ist ein Skandal. Ich finde, dass wir die Kassenärztliche Vereinigung auffordern sollten, mit solchen ideologischen Äußerungen, die sie gerne verwenden, aufzuhören.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Meine Damen und Herren, wir müssen uns darüber unterhalten, wie in den Gemeinden die Probleme angesichts der konkreten lokalen Situation vor Ort gelöst werden können. Das kann am Ende die Einrichtung von Gemeinschaftspraxen oder von medizinischen Versorgungszentren mit angestellten Ärztinnen und Ärzten in Teilzeit, mit flexiblen Arbeitszeiten, und einer Kinderbetreuung bedeuten.

Meine Damen und Herren, Sie kommen an der Realität nicht vorbei, dass sich die Welt geändert hat, dass auch Frauen in diesem Lande ihr Recht zur freien Berufsausübung einfordern. Das gilt auch für die niedergelassene Arztpraxis im ländlichen Raum.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Deswegen kommt es darauf an, dass wir uns zu Lobbyisten, zu Vertretern der Interessen der Patientinnen und Patienten in Hessen machen und für eine nachhaltige und gute Gesundheitsversorgung auch auf dem Land zu sorgen. Das kann niemand alleine schaffen, das können wir nur gemeinsam schaffen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Sarah Sorge:

Vielen Dank, Frau Kollegin Schulz-Asche.

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