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08.07.2009

Andreas Jürgens zum Behindertengleichstellungsgesetz und zur Umsetzung des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Debatte über eine Große Anfrage ist immer Anlass, Erreichtes zu würdigen, Defizite aufzuzeigen und Perspektiven zu besprechen. Um die Bewertung vorwegzunehmen: In der Behindertenpolitik der Landesregierung, um die es in der Debatte geht, gibt es mehr Schatten als Licht. Manches geht durchaus voran. Das sehen auch wir. Vieles wurde versäumt. Einige Ideen der Landesregierung haben gefloppt. In einem entscheidenden Punkt, dem gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern, versagt die Landesregierung komplett.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Fangen wir mit den positiven Beispielen an. Zu Recht erwähnen Sie in der Antwort auf unsere Große Anfrage an verschiedenen Stellen den Leitfaden „Unbehinderte Mobilität“, der in Hessen zur Gestaltung öffentlicher Verkehrsräume entwickelt worden ist.

Ohne jeden Zweifel ist mit diesem Leitfaden ein großer Wurf gelungen. Die Beispiele zur Umsetzung von Barrierefreiheit in diesem Leitfaden sind durchaus gelungen. Das freut mich nicht zuletzt deswegen, weil viele davon in Kassel in der Praxis erprobt worden sind. Die Anwendung in der Praxis dürfte allerdings noch ein bisschen zulegen. Aber da sind wir grundsätzlich auf einem guten Weg.

Sie haben uns auch ein weiteres positives Beispiel, eine eindrucksvolle Liste von Gebäuden, vorgelegt, bei denen seit Inkrafttreten des hessischen Gesetzes Maßnahmen der Barrierefreiheit durchgeführt wurden. Das ist natürlich gut und richtig so. Es war Ziel der Gesetzgebung, dass sich dort etwas tut.

Wenn man aber einmal die Wirklichkeit betrachtet, ist sie in einigen Bereichen etwas nüchterner. Ich darf Ihnen vorlesen, was mir ein Betroffener über die von Ihnen erwähnte barrierefreie Umgestaltung von Aula und Hauptgebäude der Universität in Gießen geschrieben hat:

Der Haupteingang ist für Rollstuhlfahrer nicht nutzbar. Sie werden mit einem Piktogramm um das Gebäude, das nicht klein ist, herum geschickt. Auf der Rückseite befindet sich eine Rampe, die zu einer Hintertür führt. Da die Tür nicht kraftbetätigt ist, stellt sie für Rollstuhlfahrer mit geringer Armkraft schon ein großes Hindernis dar. Hat man die Tür überwunden, steht man in einem Vorraum, in dem unter anderem schmutzige Wäsche gelagert ist. Es gibt keine Wegweisung, wo man was findet, insbesondere nicht zum Aufzug, der sich um mehrere Ecken herum versteckt in einer Nische in der Nähe des Haupteingangs befindet. Wichtige Hörsäle usw., in denen auch öffentliche Veranstaltungen stattfinden, sind für Rollstuhlfahrer nicht erreichbar, da sie sich auf Zwischengeschossen befinden, die nur über zusätzliche Treppen erreichbar sind.

Das ist zweifelsfrei keine Barrierefreiheit. Selbstverständlich ist eine Rampe zum Hintereingang besser als Stufen am Haupteingang. Aber barrierefrei ist das noch lange nicht. Es gibt also noch einiges zu tun. Der Fortschritt ist eben auch hier manchmal eine Schnecke.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein weiteres durchaus positives Beispiel ist aus meiner Sicht die gelungene Integration behinderter Kinder im Vorschulbereich, insbesondere in Kindertagesstätten. Das Modellprojekt QUINT hat hier noch einen Schub gebracht. Hier werden die gleichberechtigte Teilhabe umgesetzt und die Basis für ein möglichst selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen gelegt. Das ist durchaus positiv und anerkennenswert.

Allerdings komme ich jetzt zu den Versäumnissen. In der Antwort auf die erste Frage unserer Großen Anfrage verweisen Sie auf die vom Land Hessen unterstützte Arbeit des Hessischen Netzwerks behinderter Frauen und des Hessischen Koordinationsbüros für behinderte Frauen, beide bei uns in Kassel angesiedelt. Beide wurden allerdings – darauf weise ich hin – bereits zu rot-grünen Zeiten gegründet: 1992 bzw. 1993. Seit Beginn der Regierungszeit Koch haben Sie das zwar fortgesetzt, aber auch nichts Neues an eigenen Ideen und eigenen Initiativen gestartet. Sie verweisen nur auf die natürlich sehr engagierte Arbeit der Frauen dort. Gefragt wären aber natürlich auch eigene Aktivitäten des Landes.

Behinderte Frauen sind bei allen Rehabilitationsmaßnahmen deutlich unterrepräsentiert. Behinderte Eltern erhalten selten die Unterstützung, die sie brauchen. Sexuelle Übergriffe in Einrichtungen der Behindertenhilfe sind durchaus keine Seltenheit. Es gibt also durchaus Themen, derer man sich annehmen könnte. Sie haben aber keinen Plan, wie der doppelten Benachteiligung behinderter Frauen begegnet werden kann. Das ist aus dieser Antwort deutlich abzulesen.

Das Gleiche gilt im Übrigen für die Antwort auf die Frage nach Maßnahmen, mit denen Menschen mit Behinderungen der Verbleib in der eigenen Wohnung ermöglicht werden soll. Auch hier verweisen Sie im Wesentlichen auf Aktivitäten des Landeswohlfahrtsverbandes, was richtig ist. Eigene Aktivitäten des Landes sind allerdings bis auf eine Förderung von Umbaumaßnahmen kaum festzustellen.

Ein weiterer Flop, auf den ich an dieser Stelle hinweisen möchte, der aber von Anfang an absehbar war, sind die sogenannten Zielvereinbarungen zwischen Behindertenorganisationen und kommunalen Körperschaften zur Herstellung von Barrierefreiheit. Sie teilen uns mit, dass in der Zeit seit Inkrafttreten des Gesetzes gerade einmal vier solcher Zielvereinbarungen zustande gekommen sind. Schon diese geringe Zahl macht deutlich: Die Zielvereinbarungen können klare gesetzliche Vorgaben für die Kommunen, wie wir sie immer eingefordert haben, in keiner Weise ersetzen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Ich komme zu einem wirklichen Skandal, den ich ansprechen möchte, zur Situation der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. In Ihrer Antwort auf die Frage nach der Ausbildungssituation bringen Sie lange und durchaus zutreffende Ausführungen zum vorschulischen Bereich und bringen auch sehr lange Ausführungen zu den Universitäten. Aber auch behinderte Kinder in Hessen kommen nicht direkt vom Vorschulbereich in die Universität, sondern sie müssen zwischendurch zur Schule gehen. Dort ist es so, dass Hessen mit dem gemeinsamen Unterricht nach wie vor deutlich hinten liegt. Es gibt Länder wie Berlin und Bremen, wo inzwischen über 30 %, teilweise sogar die Hälfte der behinderten Kinder im gemeinsamen Unterricht ist. In Hessen sind es unter 10 %, und das ist aus unserer Sicht erbärmlich.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Deswegen setzen viele Familien mit behinderten Kindern zu Recht große Hoffnungen auf die neue UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, zu der wir auch einen Antrag eingebracht haben. Diese schreibt zur Umsetzung des Rechts auf Bildung vor, „dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden“ und dass „Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem inklusiven, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an … Schulen haben“.

Das deutsche Sonderschulsystem ist hiermit nicht zu vereinbaren. Die hessische Praxis, behinderte Kinder in der Regel auf Förderschulen zu verweisen, steht ebenfalls im Widerspruch zu diesen Regeln der UN-Konvention.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Deshalb fordern wir in unserem Antrag zur Umsetzung der UN-Konvention die Landesregierung unter anderem auf – ich zitiere das hier bewusst –:

sicherzustellen, dass das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderung, z. B. bei der inklusiven Beschulung, bei der Umsetzung des Übereinkommens im Vordergrund steht.

Meine Herren von der FDP, wahrscheinlich kommt Ihnen die Formulierung bekannt vor; denn sie ist wörtlich übernommen aus einem Antrag der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag. Ich hoffe, dass Sie – das werden wir gleich hören – im Deutschen Bundestag nicht Dinge versprechen, die Sie dann, wenn Sie an der Regierung beteiligt sind, nicht halten wollen. Ihr eigener Antrag zur UN-Konvention lässt mich da allerdings einiges befürchten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Frank Lortz:

Herr Dr. Jürgens, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Andreas Jürgens:

Die UN-Konvention verpflichtet die Staaten ausdrücklich, behinderte Menschen bei der Umsetzung von Anfang an zu beteiligen. Sie wollen sie erst später beteiligen. Das wird sicherlich ein Gegenstand der Diskussion im Ausschuss sein.

Ein letzter Satz. Immerhin kann man aus den beiden Anträgen feststellen, dass die UN-Konvention grundsätzlich übereinstimmend bewertet wird. Vielleicht gibt es Chancen, dass wir uns im Ausschuss auf ein gemeinsames Vorgehen einigen können. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Vizepräsident Frank Lortz:

Herzlichen Dank, Herr Dr. Jürgens.