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09.09.2012
Landesarbeitsgemeinschaften, Landesfrauenrat, Parteirat

100 Tage Beer und Rentsch in der Landesregierung: Alter Wein in jüngeren Schläuchen

Mit der erzwungenen Ablösung der beiden FDP-Minister Dorothea Henzler und Dieter Posch durch Nicola Beer und Florian Rentsch hat die hessische FDP der politischen Kultur im Land einmal mehr einen Bärendienst erwiesen: Bis heute wurde von Schwarz-Gelb kein einziges inhaltliches Argument für die Rücktritte genannt. Der FDP ging es einzig und allein darum, mit neuem Personal eine andere Öffentlichkeitsarbeit im Vorfeld der Landtagswahl zu machen. Das Land und die Bedürfnisse seiner Menschen spielten keine Rolle. Die Landesregierung ist aber weder ein Ausbildungscamp für FDP-Wahlkämpfer, noch ist Politik Verkaufen ohne Inhalt. Hessen darf nicht weiter zum Selbstbedienungsladen von CDU und FDP verkommen: Unser Land hat eine anständigere Landesregierung verdient. Auch die Bilanzen der ersten 100 Tage von Kultusministerin Beer und Wirtschaftsminister Rentsch zeigen, dass sie lediglich die alte, gescheiterte Politik von Schwarz-Gelb marktschreierischer verkaufen, aber nichts wirklich anders machen sollen und wollen.

Beer: Auch ein herzlich gebrochenes Versprechen bleibt ein gebrochenes Versprechen

Ruhe und Verlässlichkeit waren den Schulen von der schwarz-gelben Landesregierung versprochen worden – Chaos und die mittlerweile vierte Kultusministerin in vier Jahren haben die Schulen bekommen. Wer hoffte, der Wechsel zu Nicola Beer sei auch mit einem inhaltlichen Aufbruch für Hessens Schulen verbunden, wurde wieder herb enttäuscht. Zum Schuljahresbeginn kündigte die Ministerin in einer Pressemitteilung an, sie stehe für eine Schulpolitik mit Herz. Aber auch herzlich 20 gebrochene Versprechen bleiben gebrochene Versprechen:
• Die 105-prozentige Lehrerversorgung ist nicht annähernd erreicht und es ist nicht einmal ansatzweise erkennbar, wie die Landesregierung die dafür notwendigen 1.600 Lehrerstellen noch bis zum Ende der Legislaturperiode schaffen will.
• Der Ausbau echter Ganztagsschulen kommt weiterhin nur im Schneckentempo voran und das riesige Betreuungsproblem, das viele Eltern von Grundschulkindern haben, hat die Landesregierung noch nicht einmal verstanden
• Das Land lässt die Kommunen beim Ausbau der Schulsozialarbeit allein, obwohl es eine Drittelfinanzierung versprochen hatte.
• Die Umsetzung des Bildungs- und Erziehungsplans stockt, weil sich Schwarz-Gelb vier Jahre lang über die Pläne der FDP für eine „Kinderschule“ gestritten hat, bevor sie dann verworfen wurden.
• Statt konsequent in Bildung zu investieren, wurden im Bildungsbereich bislang 100 Millionen Euro gestrichen. Vor allem bei der Lehrerausbildung und damit bei der Grundlage für guten Unterricht wurde die Axt angelegt. Dabei sollte eigentlich allen klar sein: Ohne gut aus- und fortgebildete Lehrerinnen und Lehrer gibt es keine gute Schule.
Angesichts der Bilanz nach mittlerweile mehr als einem Jahrzehnt schwarz-gelber Bildungspolitik hätte die neue Kultusministerin allen Grund, endlich eine Kurskorrektur vorzunehmen:
• 13 Jahre nach der Ankündigung, Hessen zum Bildungsland Nummer 1 machen zu wollen, dümpelt das hessische Bildungssystem in allen Vergleichsstudien weiter im Mittelfeld vor sich hin.
• Neun Jahre nach dem ersten Beschluss des Landtags zur selbständigen Schule haben gerade einmal 58 von rund 2000 Schulen diesen Status erreicht. Obwohl sich alle Expertinnen und Experten einig sind, dass mehr Freiheit und Autonomie für die einzelne Schule zu mehr Qualität und besseren Ergebnissen führen können und die Idee der selbständigen Schule im Landtag breit getragen wird, hat diese Landesregierung nichts erreicht, was über den Status von Modellprojekten hinaus geht.
• Drei Jahre nach dem verbindlichen Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention bekommt die Landesregierung die gemeinsame, inklusive Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderungen nicht nur nicht hin, sondern versucht sogar, die Inklusion aus ideologischen Gründen durch eine chaotische Umsetzung zum Scheitern zu bringen. Es ist ein Skandal, dass die Zahl der abgelehnten Elternwünsche auf inklusive Beschulung so hoch wie nie ist und dies in der Regel nicht etwa pädagogisch begründet wird, sondern an der fehlenden personellen, sächlichen oder räumlichen Ausstattung liegt.
• Über zehn Jahre nach Beginn der Debatte über islamischen Religionsunterricht gibt es immer noch kein Angebot an Hessens Schulen. Selbst bis zum Ende der Legislaturperiode wird es maximal einige Modellprojekte geben. Es ist beschämend, dass weder CDU noch FDP die Kraft haben, sich eindeutig von den beleidigenden und unverschämten Äußerungen des bildungspolitischen Sprechers der CDU, Hans-Jürgen Irmer, über den Islam zu distanzieren.
Kultusministerin Beer hätte also allen Grund, vieles anders zu machen, damit manches besser wird. Das scheint aber weder ihr Wille, noch der Auftrag der FDP-Spitze zu sein. Vielmehr soll wohl nur die Verkaufe geändert werden. Aber wenn das Produkt nicht stimmt, kann auch die beste PR nichts retten.

Rentsch: Viel heiße Luft

Der neue Wirtschaftsminister versteht sich vor allem als Lautsprecher eines fundamentalistischen Neoliberalismus der kalten Herzen. Zwar widmet er sich vordergründig der Herausforderung Fachkräftemangel, doch weder legt er konkrete Vorschläge zur besseren Integration von Frauen und älteren Arbeitnehmern in den Arbeitsmarkt vor, noch widmet er sich den Problemen auf dem Ausbildungsmarkt. Die kurzfristige Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland hilft da nur bedingt und bestenfalls im international geprägten Ballungsraum. Anders als seinem Vorgänger ist ihm auch billiger Populismus à la „E10 abschaffen“ nicht fremd, wobei er einfach unterschlägt, dass der Kraftstoff von Schwarz-Gelb selbst eingeführt wurde. Für die Belastungen, denen die Menschen im Ballungsraum durch den Bau der neuen Landebahn am Flughafen Frankfurt ausgesetzt sind, fehlt ihm jedes Gespür. Er selbst versteht sich offensichtlich als „Minister für Lärmbelästigung“, wenn er auch noch einen Modellversuch der Stadt Frankfurt untersagt, die durch versuchsweise nächtliches Tempo 30 auf wenigen Straßen testen wollte, welche Lärmminderungspotenziale ein Tempolimit hat. Statt sich dem überfälligen Aus- und Umbau der Stromnetze zu widmen, fordert Rentsch, hier ganz in der Tradition seines Vorgängers, den Schutz der Natur weiter einzuschränken.
Rentschs Politik ist allzu offensichtlich auf Effekthascherei und die flotte Schlagzeile angelegt – womit er seinem Stil in Wahlkämpfen und als Fraktionsvorsitzender immerhin treu bleibt. Seriös ist sie nicht. Selbst ein Auftritt um „5 vor 12“ in einer Wiesbadener Diskothek ist ihm nicht zu peinlich. Unser Land aber leidet unter der Fortsetzung einer Wirtschaftspolitik des vergangenen Jahrhunderts:
• Rentsch setzt weiter auf Infrastrukturpolitik mit dem Betonmischer, statt sich z.B. dem dringend nötigen Ausbau hochleistungsfähiger Breitband-Verbindungen in der Fläche zu widmen. 85 So wird der digitale Graben zwischen Stadt und Land immer weiter vertieft.
• Für Rentsch findet Wirtschaft vor allem in großen, traditionellen Industriebetrieben und Finanzdienstleistern statt. Er hat weder die wachsenden kleinen und mittleren Gründungen z.B. der Kreativwirtschaft noch das Potenzial der erneuerbaren Energien im Blick.
• Sein Vorgänger Posch hat die Neuaufstellung der HessenAgentur mehrfach angekündigt, aber nicht realisiert – und auch Rentsch macht keinerlei Anstalten, die Wirtschaftsförderungsgesellschaft des Landes modern und schlagkräftig aufzustellen, nachdem die Ablösung der CDU-Parteibuchwirtschaft durch FDP-Parteibuchwirtschaft gescheitert ist. Darunter leiden v.a. die jungen Unternehmen, die auf moderne Förderstrukturen angewiesen sind.
• Rentsch feiert sich selbst für die erfreulichen Zahlen auf dem hessischen Arbeitsmarkt –  ignoriert dabei aber, dass Hessen im Vergleich zu anderen Bundesländern wie Bayern, Baden-Württemberg oder selbst Rheinland-Pfalz längst ins Hintertreffen geraten ist.
• Er fordert die faktische Abschaffung des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes und beweist damit, dass er weder hinter der Energiewende noch dem Atomausstieg steht, sondern weiter Lobbyist der großen Energiekonzerne ist.

Beer und Rentsch reihen sich nahtlos in die Regierung Bouffier/Hahn ein: Sie haben auch nach 100 Tagen keine nach vorne gewandten Impulse gesetzt. Sie passen somit perfekt zum Motto der gesamten Landesregierung: „Nichts erreicht, nichts mehr vor“. Was weiterhin von ihnen zu erwarten ist, ist lediglich das Verteilen weißer Salbe und das Aussitzen manifester Probleme im Schulsektor sowie eine Wirtschaftspolitik, die von Thema zu Thema springt, die längst nötigen richtigen Weichenstellungen für den notwendigen ökologischen Umbau der Wirtschaft aber verhindert. Beides ist für Hessen zu wenig. Unser Land hat Besseres verdient.