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15.09.2016
Portrait von Tarek Al-Wazir

Tarek Al-Wazir, Minister für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung: Arbeitsmarkteinstieg von Flüchtlingen und setzt Vorrangprüfung

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich wollte eigentlich anders anfangen, aber ich fange jetzt einmal mit Ihnen an, Frau Kollegin Wissler. Es ist ausdrücklich richtig, was Doug Saunders mit seinen „Arrival Cities“ beschreibt.
(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))
– Das ist alles richtig, auch zu sagen: Als „Arrival City“ hat es Offenbach auf die Biennale nach Venedig geschafft.
An dieser Stelle muss man auch sagen, was wir dafür tun können, damit diese Bedingungen geschaffen werden. Jetzt kommt der kritische Teil: Vorher hat niemand die AfD erwähnt, Sie haben es gerade gefühlt 17 Mal getan.
(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Es kommt am Ende des Tages darauf an, dass wir in der Realität nicht darüber reden, was andere, die Interesse daran haben, dass es nicht funktioniert, als Teufel an die Wand malen, sondern dass wir alle miteinander etwas dafür tun, dass es funktioniert.
(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Genau deswegen sind wir jetzt in der Situation, zu sagen, wir wollen auch einmal thematisieren, was funktioniert – nicht im Sinne von Lob oder Eigenlob, sondern im Sinne des Satzes „Wir schaffen das“, über den letzte oder vorletzte Woche lange gestritten wurde, als er sich zum ersten Mal gejährt hat, ob er richtig oder falsch war, wie er gemeint hat, was er ausgelöst hat mit allem, was dazu gehört. Ich habe Angela Merkel immer dafür kritisiert, dass sie Dinge als alternativlos erklärt hat. Wir hatten aber an dieser Stelle keine Alternative, als dieses „Wir schaffen das“ wahrzumachen. Wir müssen das schaffen, und wir wollen das schaffen.
(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das heißt, dass wir den, in unser Land gekommenen Flüchtlingen, die bei uns bleiben, nicht nur Schutz, sondern auch Perspektiven bieten wollen. Wir haben dabei in Hessen einen guten Start hingelegt.
Vor einem Jahr wurde lange über die Frage diskutiert, wie schnell das geht oder wie lange das dauert, mit allem, was dazugehört. Ich habe damals gesagt, dass wir keinen Sprint, sondern einen Marathon vor uns haben. Von diesem Marathon haben wir immerhin ein paar Kilometer zurückgelegt. Wir sind noch lange nicht am Ziel. Allerdings gibt es durchaus Anlass für Optimismus.
(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))
– Janine, fordere es nicht heraus. Ich freue mich auch nicht über alles, was aus Bayern kommt. Neulich gab es auf „Spiegel Online“ so ein Spiel „Wer hat es gesagt – Wagenknecht oder Petry?“. Ich lag bei der Hälfte der Antworten falsch. – Wir sagen an dieser Stelle: Wir wollen, dass es gelingt.
(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))
Arbeit, Qualifizierung und Ausbildung sind die Schlüssel zur Integration; auch die Sprache wird am besten durch den alltäglichen Gebrauch gelernt. Wir wissen, dass ein Drittel bis die Hälfte der Flüchtlinge keine oder unzureichende Schulabschlüsse hat, dass in den Herkunftsländern die duale Berufsausbildung nicht bekannt ist und dass die meisten bei ihrer Ankunft kaum Deutsch sprechen. Das sind die Herausforderungen.
Die gute Nachricht ist: Auf der anderen Seite sind sehr viele junge und motivierte Menschen zu uns gekommen. Wir haben frühzeitig gehandelt. Wir haben die Landesinitiativen aufgestockt, und zwar nicht nur für das Programm „Wirtschaft integriert“. Die regionalen Ausbildungs- und Arbeitsmarktbudgets wurden auf 25,5 Millionen Euro in diesem Jahr aufgestockt, die allen, nicht nur den Flüchtlingen, zur Verfügung stehen.
Wir haben zusammen mit den Kommunen passgenaue Angebote für die Sprachförderung, Beratung und Qualifizierung entwickelt. Wir haben das Programm „Wirtschaft integriert“ im April gestartet. Ich bin weiterhin stolz darauf. Eigentlich kann man darauf nicht stolz sein, dass es bundesweit seinesgleichen sucht. Ich hätte gerne, dass wir in diesem Bereich kopiert werden. Die Zusammenarbeit zwischen der Politik, der Bundesagentur für Arbeit, dem Handwerkstag, der Industrie- und Handwerkskammer und dem Bildungswerk der hessischen Wirtschaft läuft erfolgreich, um Flüchtlingen und jungen Zuwanderern den Weg zum Berufsabschluss ebnen zu können.
(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es ist eine nahtlose Förderkette von der Berufsorientierung bis zum Berufsabschluss, die für alle offen ist, die unter 27 Jahre alt sind und nicht genug Deutsch sprechen, um eine Ausbildung ohne Hilfe absolvieren zu können. Dies kann auch von jungen Menschen mit Migrationshintergrund, die nicht als Flüchtlinge zu uns gekommen sind, oder von EU-Zuwanderern, die schon länger bei uns leben, wahrgenommen werden. Damit so früh wie möglich gefördert wird, können auch Asylbewerber mit Bleibeperspektive und geduldete junge Menschen ohne Arbeitsverbot teilnehmen.
Was machen wir da? – Am Anfang steht die Berufsorientierung. Die jungen Leute erproben sich drei Monate lang praktisch in mindestens drei Berufsfeldern und lernen die Arbeitswelt kennen. Das geschieht meist in Werkstätten der Bildungsstätten des hessischen Handwerks. Begleitet wird dieses Programm mit Maßnahmen zur Verbesserung der Deutschkenntnisse und zur Unterstützung bei der Berufswahl. Tausend Plätze stehen zur Verfügung.
Herr Kollege Rock, weil Sie die Zahlen angesprochen haben, will ich noch einmal sagen: Das hört sich auf den ersten Blick vielleicht nicht viel an. Wenn Sie aber überlegen, dass im letzten Jahr 80.000 Menschen zu uns gekommen sind, die in Hessen bleiben und nicht in andere Bundesländer verteilt worden sind, und wir davon ausgehen, dass ca. die Hälfte bei uns bleiben wird, dann haben wir 40.000 Menschen. Wenn Sie dann noch sehen, dass wir ungefähr 25.000 Menschen in der Schule haben, dann können Sie davon ausgehen, dass darunter vielleicht 5.000 EU-Seiteneinsteiger sind. Das bedeutet, dass die Hälfte derjenigen, die bei uns bleiben, noch in der schulischen Ausbildung ist. Es gibt auch Leute über 27 Jahre. Deswegen ist das insgesamt gar nicht so wenig.
(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Einstiegsqualifizierung ist das nächste, das folgt. In der Einstiegsqualifizierung verbringen die jungen Leute sechs bis zwölf Monate in einem Ausbildungsbetrieb mit einem Stützangebot aus berufsbezogener Sprachförderung, Förderunterricht, Integrationshilfen und sozialpädagogischer Begleitung. Das sind dann noch 700 Plätze, die wir finanzieren.
Danach schließt sich die betriebliche Ausbildung mit intensiver Ausbildungsbegleitung und mit Sprachförderung an. Da fördern wir 400 Plätze. Wir gehen davon aus, dass es Leute gibt, die irgendwann ihren Weg selbst machen und diese Unterstützung nicht mehr benötigen. Deswegen sind es hier weniger Plätze, die gefördert werden.
Die bisherigen Erfahrungen sind ermutigend. Wir haben im April begonnen. Jetzt haben wir September. Wir haben bisher 450 Teilnehmende, die in der Orientierungsphase sind. 70 haben die Orientierungsphase bereits hinter sich und gehen in die Einstiegsqualifizierung. Acht Personen davon haben die Einstiegsqualifizierung gar nicht mehr gebraucht und sind direkt in eine Ausbildung gegangen.
Ich will mich ausdrücklich bei allen bedanken, die sich daran beteiligen. Ich danke ganz besonders den Unternehmen, die bereitstehen. Das Ganze steht und fällt mit der Frage, ob es auch einen Praxisbezug hat, wenn es in die betriebliche Ausbildung geht. Alle machen mit.
Ich will an dieser Stelle aber auch noch einmal sagen: Wenn das BAMF schneller wäre, dann wäre vieles besser. Mehr sage ich dazu jetzt nicht.
(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vieles von dem, was wir an Problemen haben, wie viele oder wie wenige bei der Bundesagentur angekommen sind, hat etwas damit zu tun, dass die Verfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge weiterhin viel zu langsam sind.
In der Integration der Flüchtlinge steckt nicht nur für diese jungen Leute eine Chance, sondern auch für die hessische Wirtschaft. Motivierte junge Menschen können zu den gesuchten Fachkräften werden. In diesem Sinne: Wir können das schaffen, wir wollen das schaffen und wir werden es schaffen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Zur Vorrangprüfung. Herr Kollege Roth hat ein paar Fragen gestellt. Das Integrationsgesetz auf Bundesebene gibt den Ländern die Möglichkeit, die Vorrangprüfung auszusetzen. Hessen hat davon Gebrauch gemacht, und zwar flächendeckend. Die Vorrangprüfung ist jetzt in ganz Hessen in jedem Agenturbezirk der Bundesagentur für Arbeit ausgesetzt, weil sich das Land Hessen so entschieden hat.
Ich bin ausdrücklich dafür. Ich habe lange dafür gekämpft. Liebe Kollegin Wissler, auch da nicht so denken, dass das etwas mit parteipolitischen Färbungen zu tun hat. Wir waren vor einem Jahr fast schon einmal so weit, die Vorrangprüfung auszusetzen. Der hessische Ministerpräsident war dafür und die Bundeskanzlerin auch. Danach gab es eine Intervention von Horst Seehofer und Sigmar Gabriel, deswegen hat es noch länger gedauert.
Ich bin froh, dass wir es jetzt haben. Manchmal geschehen die historischen Entwicklungen so, dass es kaum einer bemerkt. Die Vorrangprüfung hat fast 100 Jahre im deutschen Arbeitsrecht gestanden. Sie ist unter Reichspräsident Friedrich Ebert ins deutsche Arbeitsrecht aufgenommen worden. Das ist damals auf Druck der Gewerkschaften passiert, die sich gegen die Leute aus Ostelbien – so wie sie damals gesagt haben – gewehrt haben.
Ich glaube, dass wir an dieser Stelle gerade in Hessen bei einer Arbeitslosenquote von 5,3 Prozent, bei so vielen bisher unbesetzten Ausbildungsstellen wann, wenn nicht jetzt, sagen können: Auf diesen bürokratischen Aufwand können wir verzichten. Wir wollen die Integration durch Arbeit, wir wollen keine bürokratischen Hürden aufbauen, sondern wollen es möglich machen.
(Beifall bei der CDU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:
Herr Minister, ich erinnere an die Redezeit.
Tarek Al-Wazir:
Letzter Punkt, der mir auch noch wichtig ist. Wir haben es jetzt geschafft, die 3+2-Regelung hinzubekommen. Auch dafür haben wir uns auf Bundesebene eingesetzt. Das heißt, dass Unternehmen, wenn sie einem Flüchtling, auch wenn er über keinen gesicherten Aufenthalt verfügt – ich habe über die Länge der Verfahren gesprochen – einen Ausbildungsplatz geben, die aufenthaltsrechtliche Sicherheit haben, dass die dreijährige Ausbildung beendet und dann noch mindestens zwei Jahre im Betrieb gearbeitet werden kann.
Ich glaube, das wird mit dazu beitragen, dass sich Unternehmen noch mehr Mühe geben in dieser Frage, um ihre Ausbildungsplätze zu besetzen. Das wird am Ende der Integration insgesamt helfen.
Wir haben uns also als Landesregierung, als Hessischer Landtag früh auf den Weg gemacht, damit aus Flüchtlingen neue Bürgerinnen und Bürger werden. Das bedeutet, dass wir in diesem Prozess, der allen Seiten der Gesellschaft etwas abverlangt, nämlich jeweils Respekt vor den Rechten der anderen und die Gewährung von Chancen, gut vorangekommen sind. Es gibt also Anlass für Optimismus. – Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:
Danke, Herr Staatsminister.

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