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10.03.2016

Sigrid Erfurth: Gleichberechtigung verwirklichen – Gewalt gegen Frauen vorbeugen und bekämpfen

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch der diesjährige Frauentag, den wir am Dienstag begangen haben, hat Anlass geboten, gleichzeitig zurückzuschauen und nach vorne zu blicken. Zurückschauen können wir auf eine 105-jährige Geschichte, in der sich Frauen Stück für Stück mehr Wahrnehmbarkeit und heute selbstverständlich erscheinende Rechte erkämpft haben. Junge Frauen in der Bundesrepublik sind heute überwiegend sehr selbstbewusst, sehr gut ausgebildet, und sie haben in der Regel auch gute Startchancen.

Dennoch ist eine wirkliche Gleichberechtigung von Frauen und Männern, wie sie im Grundgesetz weise verankert ist, noch nicht überall erreicht.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)
Deshalb ist es gut, sich an Tagen wie diesen der Tatsache bewusst zu werden und daran zu arbeiten, die Bedingungen abzustellen, die die Ungleichheit aufrechterhalten. Dabei gebührt den Vereinen und Verbänden, die an dem Thema Gleichberechtigung arbeiten, ebenso unser Dank wie all den Frauenbeauftragten nach der Hessischen Gemeindeordnung oder dem Hessischen Gleichberechtigungsgesetz, die ebenfalls jeden Tag daran arbeiten, Ungleichheiten abzubauen.
Am 19. März haben wir wieder einen solchen Tag: den Equal Pay Day. An ihm wird daran erinnert, dass auch bei uns in Deutschland Frauen ein um etwa 20 Prozent niedrigeres Einkommen haben als Männer. Selbst wenn man Effekte wie Teilzeitarbeit oder auch Berufswahl berücksichtigt, kommt man immer noch auf Einkommens- oder Gehaltsunterschiede von 10 Prozent.
Es ist an uns Politikerinnen und Politikern – aber nicht nur an uns, sondern es ist auch eine Frage der Gesellschaft –, gerade den jungen Frauen deutlich zu machen, welche Auswirkungen ihre Berufswahl in der Zukunft hat, wo die Tücken in der sogenannten Lohnlücke liegen und dass es sich für sie in der Altersversorgung stark bemerkbar machen wird. Das ist eine Aufgabe, an der wir gemeinsam arbeiten müssen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)
Es ist auch unsere Aufgabe in der Politik, die Rahmenbedingungen weiter zu verbessern. Gerade das haben wir in der schwarz-grünen Koalition gemacht. Wir haben mit der Neufassung des Hessischen Gleichberechtigungsgesetzes Weichen gestellt. Wir wollen, dass, auch in der hessischen Verwaltung, viel mehr Frauen in Führungspositionen aufsteigen. Wir wollen, dass Frauen die Chance haben, auch in besser bezahlte Positionen vorzurücken. Es soll auch Führung in Teilzeit ermöglicht werden. So soll durch vielfältige und flexible Arbeitszeitmodelle erreicht werden, dass Frauen und Männer Familie und Karriere unter einen Hut bringen können.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)
Auf der Bundesebene – auch das will ich nicht unerwähnt lassen – wurde durch eine Quote für die Aufsichtsräte eine Weiche in die Richtung gestellt, dass die Unterrepräsentanz von Frauen in den Führungsetagen großer Unternehmen abgebaut wird. Ich habe in der „FR“ von gestern gelesen, dass etwas mehr Frauen in Führungspositionen vorgerückt sind und dass sich in großen Firmen etwas bewegt. Es tut sich also etwas, aber längst nicht genug. Tage wie diese sind daher wichtig, um das gesellschaftliche Bewusstsein für die allgegenwärtige Ungleichheit wachzuhalten.
Meine Damen und Herren, ich füge hinzu: Es lässt sich vieles, aber nicht alles durch gesetzliche Vorgaben lösen. Wenn wir uns im Plenarsaal umschauen, sehen wir, wie sehr die Debatte über die Gleichheit und Ungleichheit von gesellschaftlichen Lebensentwürfen die Menschen interessiert. Daher sage ich: Fangen wir einmal bei uns an.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)
Oder schauen Sie sich einmal die neu gewählten Gemeinde- und Kreisparlamente an: Die Fraktionen, die sich bemüht haben, auch Frauen als Kandidaten aufzustellen, müssen hinterher feststellen – zumindest ist es mir so gegangen –, dass durch Kumulieren und Panaschieren eine schön austarierte Liste in einigen Bereichen doch wieder ein Männerübergewicht aufzuweisen hat. Auch das ist die gesellschaftliche Realität.
(Zuruf des Ministers Tarek Al-Wazir)
– Tarek, im Kreistag haben wir auch sehr viele Frauen. Aber unsere Kandidatenliste für die Stadtverordnetenversammlung von Witzenhausen hat man uns völlig auseinandergenommen. Auch das ist das gute Recht von Wählerinnen und Wählern. Wir müssen weiter daran arbeiten.
Die schwarz-grüne Koalition in Wiesbaden schafft Rahmenbedingungen zur Unterstützung von Frauen. So haben wir mit dem Sozialbudget Hilfsangebote für Frauen und Kinder weiter ausgebaut. Die Mittel für Frauenhäuser, Interventionsstellen und Frauennotrufe wurden aufgestockt und über die ganze Legislaturperiode der Höhe nach gesichert. Ich glaube, es ist ein entscheidender Erfolg, dass wir über die gesamte Legislaturperiode hinweg sagen: Das ist es, was euch zusteht, und das kann euch auch nicht genommen werden.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU und der SPD)
Die Landkreise und die kreisfreien Städte sorgen im Rahmen der kommunalisierten Hilfe dafür, dass die Hilfe dort ankommt, wo sie gebraucht wird. Das ist ein wichtiger Baustein des Unterstützungssystems für die Frauen, die Hilfe brauchen.
Meine Damen und Herren, ich will mich noch mit einer anderen Gruppe von Frauen beschäftigen, die, wie ich glaube, unsere ganz besondere Hilfe und Unterstützung braucht.
Das sind die Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind. Die Zahlen werden immer wieder genannt, auch ich will es noch einmal tun, weil es so wichtig ist, dies nicht zu vergessen: Mehr als ein Drittel aller in Deutschland lebenden Frauen sind bereits Opfer von körperlicher oder sexualisierter Gewalt geworden. Das derzeit gültige Sexualstrafrecht – das ist ein Bundesrecht; es ist also nichts, was wir hier in Wiesbaden verändern können – hat seit Langem bekannte Lücken. Diese müssen endlich geschlossen werden, damit Täter auch zur Rechenschaft gezogen werden können.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU und der SPD)
Meine Damen und Herren, die Bundestagsfraktion der GRÜNEN hat dies nicht erst seit den Vorfällen in Köln thematisiert; sie hat schon im Sommer des letzten Jahres einen Gesetzentwurf in das Verfahren eingebracht, bei dem die sogenannte Istanbul-Konvention umgesetzt werden sollte.
Wenn man sich mit dem Thema näher beschäftigt, könnte man meinen, das Sexualstrafrecht in der Bundesrepublik gehe noch immer von einem Frauenbild aus, das Frauen irgendwie eine latente Mitschuld daran zuweist, dass sie Opfer von sexuellen Übergriffen werden. Wie kann man es sich sonst anders erklären, wenn man einer Frau aufgibt, sich „hinreichend“ zu wehren, wenn ihre Anzeige eine Chance auf gerichtliche Verfolgung haben soll. Man muss sich also wirklich „hinreichend“ zur Wehr setzen, damit eine Anzeige nachher gerichtlich verfolgt wird. Stellen Sie sich einmal folgenden Fall vor:
Einer Frau wird aus einer Menschenmenge heraus von hinten an den Po gegriffen. Sie dreht sich um, stellt den Angreifer zur Rede. Dieser lacht ihr frech in das Gesicht und fasst ihr in den Schritt. – Ja, meine Damen und Herren, dann ist die Frau erst einmal völlig von der Rolle und braucht einen Moment, bis sie sich der Situation bewusst wird. Sie ist erst einmal starr vor Schreck.
Was ist aber eigentlich rein rechtlich passiert? Rein rechtlich und in der Gesetzeslogik kam dieser Angriff nicht überraschend, weil sie den Angreifer ja angeschaut hat, und sie hat sich nicht gewehrt. Also kann dieser Angreifer nach bisheriger Logik auch nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Das ist passiert, weil Nein eben nicht Nein heißt. Ich glaube, liebe Frauen und Männer, das muss dringend geändert werden.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU und bei Abgeordneten der SPD)
Nein muss auch Nein heißen und Nein bedeuten. Das ist auch die Linie der Hessischen Landesregierung, und ich bin der Justizministerin sehr dankbar, dass sie ihre Stimme laut und vernehmlich in diesem Sinne erhoben hat.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)
Sie setzt sich für die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen ein und kritisiert den bisherigen Entwurf aus dem Hause Maas an diesem Punkt für unzureichend. Ich glaube, diese Kritik ist sehr berechtigt.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU sowie der Abg. Marjana Schott (DIE LINKE))
Meine Damen und Herren, Menschen, die sich vertieft mit dem Thema sexualisierter Gewalt beschäftigen, merken sehr schnell, dass sexuelle Übergriffe im öffentlichen Raum nach geltender Rechtslage selten geahndet werden bzw. nicht geahndet werden können, weil das Recht eben so ist, wie es ist. Das Bewusstsein dafür, dass diese Rechtlage nicht gut ist, hat sich nach den Übergriffen von Köln geändert. Es ist wieder gewachsen, und das ist auch gut so.
Vizepräsident Wolfgang Greilich:
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Sigrid Erfurth:
Ich danke Ihnen, Herr Präsident. – Daher habe ich die Hoffnung, dass sich jetzt etwas bewegt und dass es in die richtige Richtung geht, damit Nein auch Nein heißt. Ich freue mich auf eine gemeinsame und unterstützende Beratung unserer Anträge in den Ausschüssen. – Ich danke Ihnen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)
Vizepräsident Wolfgang Greilich:
Vielen Dank, Frau Kollegin Erfurth.

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