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12.12.2012

Kordula Schulz-Asche: Inklusives Hessen – Aktionsplan des Landes mit Leben füllen

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 hat sich die Politik, aber auch die Gesellschaft verpflichtet – ich zitiere –,
wirksame und geeignete Maßnahmen [zu treffen], … um Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren.
Das stellt uns alle vor sehr große Herausforderungen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Eine inklusive Gesellschaft bedeutet, dass jeder Mensch als Individuum anerkannt ist. Zuschreibungen hinsichtlich des Alters, des Geschlechts, des Migrationshintergrundes, Beeinträchtigungen, Religionszugehörigkeit oder sozialer Herkunft sollen keinen Einfluss mehr auf die Frage haben, ob es gesellschaftliche Teilhabe gibt oder nicht. Das heißt, das ist eine Gesellschaft, in der die Bedingungen in jeder Hinsicht so gestaltet sind, dass alle Menschen, unabhängig davon, ob sie beeinträchtigt sind oder nicht, ohne besondere Anpassungsleistungen und ohne jede Diskriminierung zusammenleben können. Inklusion bedeutet volle, gleichberechtigte und wirksame Teilhabe aller Menschen von Anfang an.
Diese Freiheit meint nicht nur die bürgerlichen Rechte, wie etwa die Wahlfreiheit oder die Berufs- und die Gewerbefreiheit. Sie meint die Freiheit in allen Lebensbereichen. Jedes Individuum hat unabhängig von seinen persönlichen Merkmalen nur aufgrund seines Menschenseins das gleiche Recht und den gleichen Anspruch auf Würde, barrierefreien Zugang zu Produkten und Dienstleistungen und die gleichen Rechte auf Teilhabe an der Gesellschaft. Es geht um die gleiche Freiheit für Jede und Jeden, etwas aus ihrem bzw. seinem Leben machen zu können. Es geht darum, frei wählen zu können. Es geht um ein selbstbestimmtes Leben und die gleichen Lebenschancen für alle.
Für das Ziel, die inklusive Gesellschaft zu erreichen, brauchen wir einen Perspektivwechsel. Wir müssen uns eine neue Kultur des inklusiven Denkens und Handelns auf allen gesellschaftlichen Ebenen erarbeiten.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Thomas Spies (SPD))
Im Hessischen Aktionsplan verweist die Landesregierung in der Einleitung darauf, dass die schrittweise Verwirklichung inklusiver Lebensbedingungen im Gemeinwesen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist und der Aktionsplan nur den Rahmen und die Orientierung vorgeben könne. Der Aktionsplan sei ein wesentlicher Baustein im Hinblick auf eine inklusive Gesellschaft, müsse aber durch viele Aktivitäten und Initiativen auf allen gesellschaftlichen Ebenen ergänzt und mit Leben gefüllt werden.
Das ist natürlich erst einmal richtig. Wie bereits gesagt, sehen auch wir, dass die Inklusion uns alle angeht und Schritt für Schritt erfolgen wird. Doch trägt der Aktionsplan der Hessischen Landesregierung weder den Erwartungen, die mit der Vorlage eines Aktionsplans verbunden sind, noch den Anforderungen Rechnung, die aufgrund der Behindertenrechtskonvention an einen Landesaktionsplan gestellt werden müssen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Er bleibt in weiten Teilen völlig beliebig und oberflächlich. Er ist im Grund genommen mehr eine Bestandsaufnahme und eine Zusammenstellung der Aufgabenbeschreibungen. Es gibt keine konkreten und zeitlich terminierten Handlungsempfehlungen. Man braucht aber, um ein solches Projekt umzusetzen, eine aktive Landesregierung, die sich engagiert und die tatsächlich versucht, alle zu Zusagen zu bringen. Aber leider ist die Landesregierung auch in diesem Bereich erschöpft und verbraucht.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Tatsache ist doch, dass in Hessen immer noch zu viele Menschen von der gleichberechtigten Teilhabe sowohl am politischen als auch am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben ausgeschlossen sind. Deshalb sind konkrete Schritte einzuleiten, um Barrieren und Hemmnisse abzubauen.
Lassen Sie mich drei Bereiche exemplarisch herausgreifen. Wir haben auch in Hessen immer mehr Menschen mit Behinderung, die arbeitslos sind. Wir haben in Hessen 2.330 Unternehmen, also Arbeitgeber, die keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigen.
Was steht dazu im Aktionsplan? Dort steht, Ziel sei die Verringerung der Arbeitslosigkeit der behinderten Menschen. Das solle „ab sofort“ in Angriff genommen werden. Doch was tatsächlich getan werden soll, bleibt leider völlig unverbindlich.
Wie sieht es hinsichtlich eines barrierefreien Zugangs im Gesundheitswesen aus? – Es ist schön, dass das als Daueraufgabe gesehen wird. Doch wo bleiben die konkreten Handlungsschritte? Ein Beispiel aus dem Aktionsplan ist die Anregung der Durchführung einer Veranstaltungsreihe zum Thema „barrierefreie Arztpraxis“ bei der Landesärztekammer Hessen.
Wir haben eine alternde Gesellschaft. Wir haben immer mehr alte Menschen, die nicht nur von Geburt an behindert sind, sondern die im Laufe ihres Lebens z. B. beim Gehen beeinträchtigt werden. Sie kommen mit Rollatoren nicht in die Arztpraxen. Da kann doch eine solche einzelne Veranstaltung nicht die Lösung sein. Es ist doch notwendig, dass wir endlich dafür sorgen, dass es genügend barrierefreie Praxen, über Hessen verteilt, gibt, in denen sich diese Menschen tatsächlich medizinisch behandeln lassen können.
Wir brauchen Beschäftigte im Gesundheitswesen, die in der Lage sind, mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen umzugehen. Das gilt für die Ärzte und die Ärztinnen. Das gilt aber auch für das Pflegepersonal. Meine Damen und Herren, da wird doch deutlich, dass Sie keine wirklichen Schritte unternehmen, um diese Probleme zu lösen.
Ich möchte noch einen Bereich nennen, der mir in diesem Zusammenhang besonders am Herzen liegt. Es gibt sehr viele behinderte Frauen, die im Rollstuhl sitzen und die kaum Zugang zu gynäkologischen Untersuchungsmöglichkeiten haben. Ich finde, das ist in Zeiten, in denen wir über Inklusion reden, tatsächlich ein Skandal.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Barbara Cárdenas (DIE LINKE))
Wie sieht es mit der Inklusion in der Schule aus? Es entsteht der Eindruck, dass Schwarz-Gelb das Thema Inklusion durch eine chaotische und in der Ausstattung unzureichende Umsetzung bewusst zum Scheitern bringen will. Eine solche ideologische Politik auf dem Rücken der Schülerinnen und Schüler finde ich schäbig.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es gibt zahlreiche Hindernisse, die die Landesregierung einer erfolgreichen Inklusion an den Schulen in den Weg legt. Die Zahlen zeigen uns, dass noch immer zu viele Kinder mit Förderbedarf an den allgemeinbildenden Schulen abgewiesen werden.
Die Regierung müsste diesen Fakten endlich Taten entgegensetzen, anstatt immer nur zu erzählen, dass alles gut sei. Bereits Anfang des Jahres 2011 haben wir GRÜNEN eine detaillierte Gesetzesinitiative zur Umsetzung der Inklusion in den Schulen in den Landtag eingebracht. Darin waren sowohl konkrete Maßnahmen, als auch ein detaillierter Zeitplan und machbare Umsetzungsschritte beschrieben. All das fehlt von der Landesregierung nicht nur in den Schulen. Vielmehr ist der Aktionsplan ein weiteres Beispiel dafür, dass Sie nicht in der Lage sind, so detailliert die Maßnahmen zu planen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Lassen Sie mich ein drittes Beispiel nennen: Barrierefreiheit in der Mobilität. Auch hier möchte ich ganz konkret sein. Wir brauchen kontrastreiche Bahnhofspläne und Wegweiser in großer Schrift, Informationen in Gebärdensprache, gut einsehbare und ausreichend breite Radverkehrsanlagen, niedrigere Ticketschalter für Rollstuhlfahrer, deutliche Ansagen von Einfahrten, Ausfällen und Änderungen an Bahnhöfen. Das würde uns übrigens allen helfen, nicht nur beeinträchtigten Menschen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir brauchen verständliche Tarifsysteme an Automaten, die Verwendung von verständlicher und einfacher Sprache bei Erklärungen, Toiletten für Menschen mit Behinderungen im Flugzeug, Einstiegsmöglichkeiten für Menschen mit großen Elektrorollstühlen in Bahn und Bus und natürlich auch mehr Servicepersonal an den Bahnhöfen. Meine Damen und Herren, hier an diesem Beispiel wird doch deutlich, wie Inklusion nicht nur beeinträchtigten Menschen die Teilhabe ermöglicht, sondern uns allen nützliche, zusätzliche Leistungen und eine bessere Lebensqualität verschaffen könnte.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)
Doch die Landesregierung hat keine Antworten, wie die Aufgabe „Inklusive Gesellschaft“ gemeistert werden kann. Leider ist mit diesem Aktionsplan noch kein zukunftsfähiges Konzept zu erkennen.
Wir fordern – und das hat der Kollege Mick auch schon kurz angesprochen –, dass man jetzt einen sehr transparenten Prozess mit allen Beteiligten gestaltet, in einem offenen, gesellschaftlichen Dialog, und konkrete Ziele beschreibt, die auch zeitlich determiniert sind. Man muss sagen: Bis dann und dann wollen wir diesen und jenen Schritt erreicht haben, damit auch klar ist, was in der nächsten Stufe kommt. Hier muss noch sehr viel nachgearbeitet werden.
Wir sind der festen Überzeugung – und hoffentlich sind wir in Hessen da auf einem guten Weg –, dass die Expertinnen und Experten in eigener Angelegenheit – die beeinträchtigten Menschen – in diese Diskussion noch mehr einbezogen werden, als das bisher der Fall war. Denn ihre Mitwirkung ist Motor und Garant für eine erfolgreiche Umsetzung, die große Herausforderung an unsere Gesellschaft „Inklusion für alle Menschen“ zu erreichen. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Michael Siebel (SPD))
Vizepräsident Lothar Quanz:
Vielen Dank, Frau Schulz-Asche.